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Letzte Aktualisierung: 27.2.2024

• Streiter, Schlichter, Geißler!

Sendedatum: 12.09.2017 • Format, Länge: Nachruf 15:00 • Sender: PHOENIX

"Ich bin für Helmut Kohl auf die Barrikaden gegangen. Da hat man von anderen nur noch den Staub gesehen." Streit kannte er aus allen Perspektiven: als Sieger, als Verlierer. "Helmut Kohl hat mir heute mitgeteilt, dass er mich nicht mehr zum Generalsekretär vorschlagen wird." Und als Schlichter. "Politik ist keine Wissenschaft, wie viele Professoren meinen, sondern eine Kunst." Streit scheint seine Berufung gewesen zu sein.

Streiter, Schlichter, Geißler!
Zum Abschied von Heiner Geißler.

Für den leidenschaftlichen Bergsteiger Heiner Geißler war es der letzte, große Berg Arbeit: Die Schlichtung im Streit über den Bahnhof Stuttgart 21. Herbst 2010: Als der "Kessel", wie Stuttgart auch genannt wird, brodelt.

ATMO "Lügenpack! Lügenpack!"

Als der Streit über das milliardenschwere Bauprojekt eskaliert, soll es der gebürtige Schwabe Geißler mit einer Schlichtung richten. Altersweise nannten ihn damals die Beteiligten, erhaben jeder Voreingenommenheit, und ausgestattet mit dem, was jeden Streitsuchenden entmachtet: Humor.

O-TON-Collage "Sie haben bitte das Wort für sich an sich gerissen. 'Tschuldigung, das geht nicht. // 'Tschuldigung, wir machen das, was ich sage. // Ich würde mal sagen: Reißen Sie sich zusammen."

Wenn es ein Gen dafür geben würde, Streit zu kultivieren, das Wertvolle aus Streit zu ziehen – dieses Gen wäre Heiner Geißler mit in die Wiege gelegt worden.

1930 kommt Heinrichjosef Georg Geißler in einem katholischen, betont anti-nationalistisch-geprägten Elternhaus zur Welt. In Sankt Blasien im Schwarzwald besucht er das Jesuitenkolleg. Persönliche Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit, aber auch Dienst an der Gesellschaft werden hier vermittelt. Geißler? Schon damals ein streitbarer Geist.

O-TON Heiner Geißler, 1998: „Im ersten Schulzeugnis, das ich bekam in der Grundschule, stand: ‚Er bringt den Lärm des Schulhofes ins Klassenzimmer.‘ In Betragen hatte ich immer eine Vier oder eine Fünf. Und ich habe aber im Kolleg Sankt Blasien schon einen gewissen Schliff bekommen. Das ist wahr. Aber die haben es auch nicht geschafft.“

Die politische Karriere

1967 holt Helmut Kohl den 30 Jahre alten Bundestagsabgeordneten nach Mainz. Der Jurist wird Minister für Soziales und Gesundheit in Rheinland-Pfalz.
Es wird Geißlers Schicksal, dass er als Politiker von nun an in Nähe und Distanz zu Helmut Kohl definiert wird.

O-TON – kein Insert: „Kollegen, die sie portraitiert haben, haben Ihnen eine Art Lausbubencharme attestiert. Gefällt Ihnen das?“ - O-TON Heiner Geißler, 1967: „Ja, das ist Glückssache. Und außerdem: Ich habe drei kleine Buben zuhause, da ergibt sich das so.“ O-TON – kein Insert: „Was kränkt Sie persönlich?“ - O-TON Heiner Geißler: „Mich würde kränken, wenn die Sozialpolitik, wenn die Gesellschaftspolitik in der Politik selber, und auch nicht in der Verwaltung, nicht den Rang einnähme, der ihr gebührt. Und meine Aufgabe besteht auch darin, die gesamte Gesellschafts- und Sozialpolitik aufzuwerten.“

So entsteht das erste Kindergartengesetz unter seiner Verantwortung, aber auch ambulante Krankenpflege und Sozialstationen ruft er ins Leben. Begriffe wie die neue Soziale Frage werden von ihm entwickelt und schärfen sein Profil. Er besetzt Politikfelder, die in der Union bisher nur stiefmütterlich behandelt werden.

O-TON HG: „Wir sind auch der Meinung, dass die Frau vor allem als Mutter und Hausfrau, noch längst nicht die gleichberechtigte Position erreicht hat wie sie ihr im Grunde genommen nach dem Grundgesetz zusteht.“ - O-TON Angela Merkel, 2005: „Einer meiner ersten Parteitage nach der Deutschen Einheit. Einer sagt mir - ich war Frauenministerin: Die beste Frau in der CDU, das ist Heiner Geißler. Das war sehr ermutigend."

Düsseldorf 1977: Geißler wird CDU-Generalsekretär. Parteichef Kohl sieht in Geißler seinen Mann für das wichtige Amt, den er gegen parteiinternen Widerstand durchsetzt. Die Chemie zwischen den beiden stimmt. Der bisherige Generalsekretär Kurt Biedenkopf muss weichen.

O-TON Kurt Biedenkopf, 1977: „Hier kann ich sagen, dass ich sehr glücklich bin, dass Heiner Geißler mein Nachfolger ist und dass ich mich gewissermaßen durch meinen Nachfolger ausgezeichnet fühle.“

Der neue Generalsekretär wirbelt die Bonner Parteizentrale mit einem Feuerwerk an Ideen durcheinander. Vorrangig ist für ihn die soziale Kompetenz der Union. Der Unterstützung durch Helmut Kohl kann er sich sicher sein. Noch.

Der Streithals

1981: erste Schatten über dem lange Zeit ungetrübten Verhältnis. Im Gegensatz zu Kohl ist Geißler besorgt darüber, dass sich Jungwähler von der Union abwenden. Er drängt auf eine offene Erörterung der Probleme. Doch davon hält Kohl nichts.

ATMO – ohne Insert: „Also ein Hauskrach ist das nicht, meinen Sie?“ „Nein, mit Sicherheit nicht!“ „Auch wenn das so beschrieben wird?“ „Der menschliche Kontakt zwischen Ihnen und Herrn Dr. Kohl stimmt auch noch?“ - O-TON HG: „Ich will Ihnen mal folgendes sagen: Ich bin für Helmut Kohl und die CDU auf die Barrikaden gegangen und war auf den Barrikaden, da hat man von anderen nur noch den Staub gesehen. Also ich brauche mir hier überhaupt nichts sagen zu lassen. Aber: Man muss nicht zu allem Ja und Amen sagen.“

1982: Die sozialliberale Koalition ist am Ende. Kohl wird Kanzler, Geißler Gesundheits- und Familienminister. Er widersetzt sich aber Kohls Wunsch, das Amt des Generalsekretärs aufzugeben. In der Folgezeit profiliert sich Geißler gekonnt, treibt die SPD bis zur Weißglut.

O-Ton HG, 1983: „Diese Partei ist die fünfte Kolonne Moskaus!“

Das beherrschende Thema in dieser Zeit: der Ost-West-Konflikt. Hunderttausende demonstrieren für die Abrüstung. Auch die Friedensbewegung nimmt der CDU-General über Jahre ins Visier.

O-Ton HG, 1983: „Dieser Pazifismus der 30er-Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht, hat Auschwitz erst möglich gemacht.“

O-TON Helmut Kohl und Willy Brandt, Mai 1985: „Lassen Sie doch Heiner Geißler beiseite. Heiner Geißler tut für unsere Partei seine Pflicht wie Ihre Leute auch. Wenn er aus seiner Pflichterfüllung heraus, aus seiner Überzeugung heraus den Finger auf Punkte legt, die ihn offensichtlich…“ Willi Brandt: „Ein Hetzer ist er. Seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land!“ - O-TON Helmut Kohl: „Och, Herr Brandt! Herr Brandt! Lassen Sie doch diese Vergleiche weg. Die stehen Ihnen überhaupt nicht an. Lassen Sie bitte den Vergleich mit Goebbels und Geißler weg. Sie sollten sich schämen!“

O-TON Hans-Joachim Kulenkampff, 1988: "Das ist die BILD. Das steht drin: In Ludwigshafen sagt er: 'Bei der Wahl müssen sich die anständigen Deutschen von der SPD distanzieren.' Das finde ich nicht gut!"

Geißler sucht den Konflikt. Hat er keinen, schafft er einen. Nach der Bundestagswahl 1987 legt er sich auch noch mit dem rechten Flügel der Union an. CSU-Chef Franz-Josef Strauß sei schuld an massiven Stimmenverlusten.

O-TON HG: „Es war sicher auch nicht produktiv für ein positives Wahlergebnis, dass ausgerechnet in dem Zeitpunkt, in dem wir gesagt haben, das Jahr 1987 soll ein Jahr des Abrüstung werden, der CSU-Parteivorsitzende eine Ausweitung des EU-Waffenexportes propagiert hat. Das hat dann auch die Glaubwürdigkeit unserer Aussage in Abrüstungspolitik tangiert.“

Im Frühjahr 89 ist Kohl selbst dran: Geißler nutzt Kohls Sinkflug in der Wählergunst und plant den Aufstand. Mit Kohl seien keine Wahlen mehr zu gewinnen. Die Union müsse sich weiter nach links öffnen. Geißler will einen Gegenkandidaten für den Parteivorsitz aufbauen.

Das Ende des Generals

August 1989: High noon im Kanzleramt. Der Machtkampf vor dem Ende. Es gibt so gut wie kein Thema mehr, bei dem sich der Kanzler und sein General einig sind. Dann der Rausschmiss aus dem Parteiamt:

O-TON HG, 1989: „Der Bundeskanzler, der Parteivorsitzende der CDU, Helmut Kohl, hat mit heute mitgeteilt, dass er mich auf dem Parteitag nicht mehr zum Generalsekretär vorschlagen wird. (…) Ich muss in dieser Entscheidung den Versuch sehen – zumindest wird dann unweigerlich der Eindruck erweckt – mich für die Wahlniederlagen der letzten Zeit verantwortlich zu machen.“

Teile der Parteibasis sind empört.

VOXPOP „Das ist scheiße, ich bin verärgert. Warum? Weil Heiner Geißler ein guter Mann ist, das Zugpferd für die CDU war in allen Wahlkämpfen und weil ich diese Entscheidung des Bundeskanzlers nicht begreifen kann.“ – „Wir brauchen einen Motor und eine Karosserie. Heiner Geißler war der Motor der Partei, der Bundeskanzler die Karosserie. Meine persönliche Meinung dazu ist noch: Mit einer beschädigten Karosserie kann man auch noch fahren; mit einem kaputten Motor nicht mehr.“

Der Noch-General versucht, auf dem Bremer Parteitag in einer Art letztem Aufbäumen, Kohl zu stürzen. Doch Geißlers Verbündete, wie der baden-württembergische Ministerpräsident Späth, kneifen, trauen sich nicht, offen gegen den Kanzler zu rebellieren. Der Aufstand misslingt. Zwar fährt Kohl bei seiner Wiederwahl als Parteivorsitzender ein miserables Ergebnis ein, doch seine Kritiker hat er ausgeschaltet.

O-TON Helmut Kohl, 1989: „Meine Damen und Herren, ein Generalsekretär muss seine Rolle ausfüllen, auch wenn das unbequem ist – für ihn, für den Parteivorsitzenden, für andere. Es ist keine einfache Rolle. In der Frage aber, wie sie ihre Ämter verstehen und ausfüllen, müssen sich der Vorsitzende und der General einig sein. Diese Einigkeit hat in der letzten Zeit nicht mehr bestanden. Und daraus habe ich die Konsequenzen gezogen.“

Aus dem General ohne Heer bricht längst Aufgestautes heraus, nachdem die 20 Jahre währende politische Freundschaft zu Ende ist.

O-TON HG, 1989: „Und wenn in der Partei Unruhe vorhanden ist – und es war doch Unruhe – und ist Unruhe, denn es ist ja alles nicht spurlos gewesen, nicht zuletzt wegen der verlorenen Wahlen – dann ist es nicht die Aufgabe des Generalsekretärs, Valium zu verteilen.“

O-TON Heiner Geißler, 2013: "Darf ich Sie fragen, wie heute Ihr Verhältnis zu Helmut Kohl ist?" - "Das ist kein Verhältnis. Aber diese Frage beantworte ich auch nicht."

Das zerrissene Band zwischen Kohl und Geißler ist schnell kein Thema mehr: Deutschland feiert den Fall der Mauer, feiert Helmut Kohl.

Der Phoenix

Geißlers Fall ist tief. Fast schon symbolisch: Der Absturz bei seinem Hobby Gleitschirmfliegen. Wochenlang Krankenhaus – doch der Sportler Geißler gibt nicht auf. Als Bundestagsabgeordneter profiliert er sich weiterhin. Auch nach der Wahlniederlage der CDU 1998. Im Zuge der CDU-Finanzaffäre richtet sich sein Zorn erneut gegen Helmut Kohl. Geißler versucht sich an die Spitze der Aufklärer zu setzen. Zwar haben auch Parteifreunde Zweifel, dass er von dem Schwarzkontensystem nichts gewusst hat, doch gezielt schiebt Geißler jede Verantwortung von sich weg hin zu Helmut Kohl. Ihm wirft er mangelnde Aufklärungsbereitschaft vor.

O-TON HG, 1999: „Die schwarzen Konten, die illegalen Konten – das konnte ja überhaupt nur deswegen funktionieren – das ist ja ganz plausibel – weil der Kreis der Mitwisser beschränkt war auf zwei, drei Personen.“

Aufsehen erregt auch seine Mitgliedschaft bei Attaque. Geißler schließt sich den Globalisierungskritikern 2007 an. Wird aus dem CDUler im Alter gar ein Linker?

O-TON HG, 2013: "Was heißt links und rechts? Früher waren die Leute rechtsradikal, wenn sie morgens pünktlich zur Arbeit kamen. Für andere waren sie linksradikal, wenn sie eine berufstätige Frau haben. Das sind so Kategorien..."

Und weil Geißler vorwärts gerichtet ist, wird ihn der Großteil aller Beteiligten - ob rechts, ob links - als Schlichter im Streit über Stuttgart 21 akzeptieren.

O-TON HG, 2013: "Die Schlichtung war ganz sicher ein Erfolg. Alle an einen Tisch, alles auf den Tisch. Leute abstimmen können."

Die Ergebnisse der Schlichtung werden zwar in der Schublade verschwinden, aber Heiner Geißler ebnet damit Bürgerbeteiligung den Weg. Er stärkt Demokratie - das, wofür er zeitlebens stritt.

O-TON HG, 1985: "Die Demokratie darf man nicht verwechseln mit einem Gesangsverein."

MUSIK und ABSPANN, 15:00 ENDE



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